Freitag, 9. Mai 2014

Sendai

Eigentlich liebe ich so etwas gar nicht, um es mal gelinde auszudrücken:
Früh um vier aus den Federn, nachdem ich erst gegen eins ins Nest gekommen war. In Halle vermeide ich das immer so gut es geht, allerdings kann ich dort auch keinen versäumten Schlaf im Schinkansen nachholen, sondern höchstens im BFW (war'n Scherz...).

Gegen fünf dann der Sonnenaufgang, der die gegenüberliegenden Hochhäuser in Orange taucht:

Schnell noch das Early-Bird-Frühstück verschlungen, und ab geht's zum  Hauptbahnhof von Tokio.
Wir sind eine Gruppe von etwa 30 Tagungsteilnehmern, die gemeinsam und unter fachkundiger Anleitung des Tagungsbüros die Umsteigerei meistert. Es soll heute nach Sendai nördlich von Tokio gehen.

Und das natürlich mit dem Schinkansen, meinem neuen Lieblingsthema:
Wie man leicht sieht, stecht für uns der Hayate (Habicht) auf Gleis 22 bereit. Die Habichtsklasse ist schon recht flott und so das schnellste, was ohne Mehrfachzuschlag zu haben ist.

Das Einsteigen ist wie fast alles in Japan straff und äußerst effizient organisiert, dagegen sind wir Deutschen ein Schlamperhaufen. Die rote Markierung am Bahnsteig gibt den Bereich vor, wo man sich für den aktuellen Zug auf-/anstellt. Die Türen steht natürlich exakt bei den geplanten Positionen.
Der grüne Bereich ist die Wartezone für den danach folgenden Zug:


Die Farbcodierung setzt sich identisch bei den Anzeigen fort.


Ohne solche Maßnahmen wäre die Haltezeit eines vollbesetzten Schinkansen von nur 2 Minuten mit Aus-und Einsteigen nicht zu packen.

Farben und Farbcodierungen werden hier generell allerorten und völlig schmerzfrei eingesetzt. Jede S-, U- oder Fernbahnlinie hat ihren eigenen Code. Dadurch ist alles kribbelbunt, aber es funktioniert narrensicher.

Die gelbe Laufmarkierung für Sehbehinderte wird gnadenlos überall durchgezogen, ob es nun gestalterisch passt oder nicht. Bei uns dagegen wird ewig etwa über die Farbabstimmung diskutiert und der Streifen dann im Zweifel mit realisiert.

Die Wartezeit gibt uns Gelegenheit zu einem Deutsch-Israelischen Gespräch.


Sekunden später saßen wir irgendwie im Zug, der auch gleich wie Schmidt's Katze losging.
Den Rest habe ich irgendwie verschlafen.

Nach 1:40 Stunden begrüßte uns Sendai, das entspricht einem Schnitt von 216 km/h auf der 360 km langen Stecke, also bestimmt 300 km/h außerhalb Tokio und Sendai, man merkt aber eigentlich nichts von dieser Geschwindigkeit und denkt die ganze Zeit, er könnte doch jetzt mal Gas geben.


Keine Ahnung, warum das unsere Deutsche Bahn nicht gebacken bekommt.

So, jetzt ist erstmal Schluss, mir fallen hier ständig die Augen zu.
*****
Weiter geht's mit dem Schreiben:


Für Sendai und Umgebung hatte die dortige Führhundschule für uns einen Bus gechartert.
Im Führhundzentrum wurden wir erstmal standesgemäß begrüßt:


und hernach von der Leitung in die Aufgaben und die Geschichte der Einrichtung eingeführt:


Die entsprechenden Präsentationen habe ich mir geben lassen, sie sind wirklich interessant, behandeln auch die große Tsunami-Katastrophe vom März 2011. Ich möchte sie nicht unautorisiert ins Netz stellen, Ihr könnt sie bei mir anfragen.

Jede Menge Mitarbeiter und auch 5 Volunteers (Freiwillige, die sonst nichts mit der Einrichtung zu tun haben, im Bild unsere Dolmetscherin, die auch Deutsch sprach) kümmerten sich um den reibungslosen Ablauf unseres Besuches. Japanische Perfektion halt.




Übungsbereich für die Führhunde

Internatszimmer

Aufenthaltsraum im japanischen Stil

Lehrküche im Bereich ADL-LPF

Unterrichtsraum

Low-Vision- Bereich

Lesegeräte
Wie die Fotos exemplarisch zeigen, bleibt die Ausstattung hinter den Erwartungen an Japan als Hightech-Land zurück. Die Lesegeräte z.B. sind nicht der allerletzte Schrei, und eine Braillezeile war auch auf explizite Nachfrage nicht aufzutreiben. Ja es wurde nicht einmal verstanden, wozu eine solche gut sein könnte, Sprache erledige doch alles und ließe keine Wünsche offen.
Damit steht Japan nach meiner Erfahrung nicht allein, auch die allermeisten hochentwickelten europäischen Länder sowie die USA und Kanada sehen das so.
Hinzu kommt, dass eine Führhundschule generell eine andere Zielsetzung hat als etwa eine Qualifizierungseinrichtung. Außerdem sind sie genau wie in vielen anderen Ländern auch durch Spenden finanziert und nicht wie in Deutschland durch die Krankenkassen. Darum beneiden uns Deutsche sehr viele.



Inzwischen haben Kathi und Mario Kontakt zu einem vierbeinigen Japaner aufgenommen, was übrigens auf Anhieb klappte, sehr zum Missfallen der Amerikaner, die den Hunden immer lauter plärrend Kommandos in ihrer Sprache geben wollten.

Die beiden hier hätten auch gern mitgespielt

Als einer der Hunde unruhig wurde, haben die Japaner flugs ein Gitter herumgebaut und Zellstoff hineingelegt:


Der Hund kannte die Prozedur offenbar bereits und ließ sich nicht lange bitten:


Muss ich zuhause dann auch mal mit unserer Riesenschnauzer-Hündin und den Katzen probieren...


Als Einstimmung auf die spätere vorgesehenen Exkursion ins Katastrophengebiet berichtete ein blinder Überlebender des Tsunamis über die damaligen Geschehnisse und seine Rettung,


die er seinem seinem Führhund zu verdanken hat. Er war damals mit seiner Frau und dem Hund im Auto unterwegs, als ihn der Tsunami traf und in eine Tiefgarage trieb. Der Wagen sackte durch den Motor vorn in den Fluten ab, ein Ausstieg war nur noch durch das Kombiheck möglich. Allerdings war der Hund darauf trainiert worden, unter keinen Umständen auf die Sitze zu treten :-(
Schließlich haben sie es doch irgendwie geschafft und trieben schwarz gekleidet im Wasser. Dem hellen Fell des Hundes ist es zu verdanken, dass sie gefunden und gerettet wurden.
Der Hund ist jetzt über 10 Jahre alt und geht in Rente.



Das Programm war straff durchgeplant, daher keine Zeit für ein Mittagessen.
Als Ersatz wurden Reisbällchen und Wasser gereicht. Die waren nicht rund und mussten trickreich ausgepackt werden:


Erst oben an der mit 1 beschrifteten Ecke aufreißen und aufziehen,


dann den Rest gut zusammenhalten und die Ecke 2 vorsichtig zur Seite wegziehen,


und schließlich dasselbe mit Ecke 3 (ohne Bild, aber soweit wird ja Eure Vorstellungskraft gerade mal noch so reichen).

Geschafft! Wir hielten ein gefülltes Reiskissen, das in Algenpapier eingewickelt war in der Hand.


Es gab verschiedene Varianten der (herzhaften) Füllung, die allesamt für uns undefinierbar aber schmackhaft waren.

Die Japaner essen die Dinger unterwegs zu jeder Gelegenheit, so wie wir eine Bockwurst. Nach spätestens zweien ist man nudeldicke voll.


Wir überlegen noch, ob wir was davon mitnehmen und am Dienstag zum Frühstück eine Runde schmeißen sollten. Bei dieser Gelegenheit könnten wir auch mal testen, ob die sich ungekühlt so lange halten. :-)

Weiter geht's auf der Fahrt ins Tsunamigebiet.

Ein bisschen komisch kamen wir uns jetzt doch vor, wie die berüchtigten Katastrophentouristen.


Aber die japanischen Kollegen hatten uns ja eingeladen, und es waren auch keinerlei Touristen zu sehen.

Wir fuhren über vermeintliches Brachland, auf dem vereinzelt stark beschädigte Häuser standen.


Bei genauerem Hinsehen bekamen wir schließlich mit, dass da überall Fundamentreste im Boden waren.
Das Gebiet war also mal dicht besiedelt, so wie bei den anderen Fotos vor einigen Tagen, und einige wenige Häuser standen noch.

Dazwischen in der Einöde immer wieder Friedhöfe mit neuen, polierten Grabsteinen.
Furchtbar beklemmend. Ich wünschte wir wären nicht hierher gefahren.



Ich bitte um Entschuldigung für die unscharfen Fotos aus dem fahrenden Bus.

Bald hielten wir an, die Fotos sind jetzt zwar wieder scharf, aber die Szene noch beklemmender.

Diesen einst von Menschenhand aufgeschütteten Hügel gibt es schon seit ewigen Zeiten als Ausguck (wenn ich das richtig geschnallt habe). Er ist 6 Meter hoch. Einige Menschen aus dem unmittelbar umgrenzenden dicht besiedelten Gebieten konnten sich vor den anrückenden Fluten hierhin zunächst retten. Sie hatten trotzdem keine Chance, denn der Tsunami war hier 9m hoch. Nur einige wenige, die auch noch den Baum oder die 12m hohen Telegrafenmasten erklommen hatten, konnten überleben.


Natürlich hatte ich seinerzeit auch in den Nachrichten gehört und gesehen, dass der Tsunami so und so hoch gewesen war. Aber das war irgenwie nur abstrakt.
Wenn man jetzt hier in der großen Ebene steht, die einmal eine Stadt war, fühlen sich 9m Fluthöhe ganz anders an.

Auf dem Hügel steht jetzt ein Schrein, an dem überlebende Angehörige ein Ort zum Trauern haben. Holztäfelchen mit Namen und Wünschen flattern im Wind (oder besser gesagt Sandsturm).





Weiter geht es ein paar Kilometer landeinwärts. Dort wurde ein Marktplatz mit massiven Baracken als Ersatz für den alten großen Markt an der Küste errichtet. Damit die Überlebenden einen Platz zum handeln und eine wirtschaftliche Grundlage haben.


Reichhaltiger frischer Fisch, in der Mitte das dunkle ist Wal (Dürft Ihr das Foto in Deutschland überhaupt herunterladen und anschauen? Oder steht das ähnlich wie Kinderpornografie nicht unter Strafe? Ich vergaß, das ist ja nicht zum Verzehr, sondern für Forschungszwecke). Rechts das dunkle ist Thun, rechts unten mit Stäbchen marinierter roher Tintenfisch zum Kosten. Schmeckt gut, man muss aber ewig kauen.


Hier Gemüse aus der Region. Leider habe ich keinen Maßstab im Bild, aber die Möhren, die Zwiebeln und die Kartoffeln waren riesigst! Vielleicht genetisch verändert? Fukushima liegt ja nur 60km südlich. Mit makaberen Scherzen (leise getuschelt) versuchen wir die Beklommenheit etwas zu verdrängen.



Ein Foto gemeinsam mit unserer japanischen Dolmetscherin holt vor dem Schnapsregal das Lächeln in die Gesichter zurück. Vielleicht hat aber auch der Sake, an dem wir zuvor genippt hatten, einen Teil dazu beigetragen.


Hier im Vorbeifahren noch einen Blick auf neu gebaute Häuser für die Überlebenen.


Dann geht es weiter zum nächsten Punkt, die Baustelle der großen Waldmauer.


Japan hat sich eine Herkulesaufgabe vorgenommen. Für den Schutz gegen Tsunamis werden über hunderte Kilometer zwei riesige, 10m hohe Deiche errichtet. Dazwischen wird aufgeforstet. Denn an Deichen allein würde der Tsunamie einfach nur auf- und drübersteigen.











Nächste Station war die Besichtigung von Fukushima:




Nein, das war ein makabrer Scherz.
Die zwei Fotos hatte ich auf der Rückfahrt mit dem Shinkansen im Bahnhof Fukushima gemacht, und der ist noch eine Ecke vom havarierten Kernkraftwerk weg, vgl. Karte.




In Wirklichkeit sind wir mit unserem Bus zum Bahnhof Sendai gebracht worden, wo in der Halle gerade ein Sinfoniekonzert dargebracht wurde!



Sonnenuntergang auf der Rückfahrt nach Tokio


Rushhour pur auf dem Tokioter Hauptbahnhof.


Wieder in Shinjuku, finales Durchzählen der Schafe.
Es bleibt mir ein Rätsel, wie der Organisator der Tagung in dem Gewusel den Überblick über die ca. 30 Exkursionsteilnehmer behalten konnte.



Ein spannender 18h-Tag geht mit einem get-together-meeting der IGDF-Konferenz zu Ende.





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